Bewegungsrichtung und Wertgröße

Die Bewegungsrichtung einer musikalischen Linie ist in zwei möglichen Dimensionen veränderbar: in der zeitlichen und in der räumlichen. Die Bewegungsrichtung in der zeitlichen Dimension zu verändern, bedeutet, die Kanonstimme von hinten nach vorne zu spielen, d.h. die letzte Note zuerst und und die erste zuletzt. Erklingt eine Melodie derart "verkehrt herum", handelt es sich um ihren Krebs.

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(Weiter unten wird noch eine zweite Möglichkeit der Veränderung der zeitlichen Dimension erwähnt werden.)

Die Bewegungsrichtung in der räumlichen Dimension zu verändern, bedeutet, aus einem Aufwärtsintervall das gleiche Abwärtsintervall und aus einem Abwärtsintervall das gleiche Aufwärtsintervall zu machen. Eine derart veränderte Stimme ist die Gegenbewegung der Grundgestalt und wird Spiegel genannt.

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Spiegelachse ist dabei aus tonalen Gründen meistens der Terzton des Tonika-Akkordes:

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Das erste Beispiel ist der Krebskanon aus Musikalisches Opfer, BWV 1079 von J. S. Bach. Da hier die Stimmen nicht nacheinander, sondern gleichzeitig einsetzen, wird ein solcher Kanon "canon sine pausis" (lateinisch: Kanon ohne Pause = Einsatzabstand) genannt. Bach hat nur die Grundgestalt der Kanonstimme notiert. Dass die zweite Stimme den Krebs der Grundgestalt spielen soll, deutet Bach mit dem dementsprechend "verkehrt herum" notierten Sopranschlüssel nebst Vorzeichen und Taktartangabe am Ende der Grundgestalt an.

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So klingt der komplette Kanon
(Krebskanon aus "Das musikalische Opfer", BWV 1079 von J. S. Bach):

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Das Spannende an diesem Kanon ist, dass sich die Grundgestalt in ihre eigene Zukunft, gleichzeitig der Krebs sich von der Zukunft der Grundgestalt in deren Vergangenheit bewegen.

Das nächste Beispiel ist nicht nur ein Spiegelkanon (Canon in contrario motu), die zweite Stimme (Bass) imitiert die führende (Sopran) in doppelter Notenwertgröße, d.h. alle Töne der zweiten Stimme sind doppelt so lang wie die, die die führende Stimme vorgegeben hat. Man spricht von einem Vergrößerungskanon (Canon per augmentationem). Dies ist die zweite Möglichkeit, eine musikaliche Linie in der zeitlichen Dimension zu verändern.

Hier der Beginn des Canon per augmentationem in contrario motu aus Die Kunst der Fuge, BWV 1080 von J. S. Bach:

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Hier wurden beide Stimmen ausnotiert, da Bach einige zusätzliche Kniffe in den Kanon "Das musikalische Opfer", BWV 1079 von J. S. Bach hinein komponiert hat.