Genaueres zum Canon alla Decima
aus "Die Kunst der Fuge",
BWV 1080

Dieser Kanon ist ein "Canon alla Dezima in contrapunto alla Terza". Das bedeutet, die Kanonstimme kann sich selbst in der Dezime und auch eine Terz tiefer, in der Oktave kontrapunktieren.

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Die Schwierigkeit eines solchen Kanons besteht darin, dass der Kontrapunkt einer Stimme eine Terz tiefer gesetzt Satzregelverstöße beinhalten kann. So werden beispielsweise aus schön klingenden Dezimparallelen verbotene Oktavparallelen, wenn die kontrapunktierende Stimme eine Terz tiefer gesetzt wird.

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Einsatzabstand sind vier Takte.
Der Kanon ist mit einem Doppelstrich in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil (Takt 1 - Takt 39) ist ein Kanon in der Dezime, der zweite Teil (Takt 40 - Takt 78) verdeutlicht die Möglichkeit des Kontrapunktes in der Terz, indem die Stimmen ihre Rolle tauschen (im ersten Teil führt der Bass, im zweiten der Sopran) und einen Kanon in der Oktave erklingen lassen.
Die Noten der Ausgangsstimme werden in der Grafik ROT, die der Dezimlage GRÜN hinterlegt.
Die BLAU hinterlegten Noten tauchen an den Stellen auf, wo ein Durchlauf vollendet ist, damit die imitierende Stimme nicht die durch den Einsatzabstand des Beginns bedingten vier Takte alleine klingen muss. Sie sind zwar nicht Bestandteil des Kanons (also "freie" Töne), aber Bestandteil des Kontrapunktes in der Quinte, da die kontrapunktierende Stimme einmal im Dezimkanon und einmal im Oktavkanon dazu erklingt. Die Tonhöhen von farbig gleich hinterlegten Noten entsprechen sich. Die letzten vier GELB hinterlegten Takte (79-82) schließen den Kanon in Form einer kleinen Coda ab.

Durch einen kompositorischen Kunstgriff führt Bach den Kontrapunkt in der Terz bereits in den Takten 9 - 12 vor: Die Bassstimme bringt in T. 9 das viertaktige Anfangsthema auf der gleichen Stufe wie die Sopranstimme in T. 4. Der Sopran in T. 9 bringt die Achtellinie aber eine Dezime höher als der Bass in T. 4. Dadurch klingen die Takte 49 - 52 wie die Takte 4 - 7, obwohl sie formal den Takten 9 - 12 entsprechen.

Bedingt durch das Einsatzintervall wird bei diesem Kanon besonders deutlich, wie sich der Ausdruck der Kanonstimme verändert, je nachdem, welche ihrer vielfältigen kanonischen und kontrapunktischen Eigenschaften sie bei der Kontrapunktierung ihrer selbst nutzt. Vergleicht man die chromatischen Linie der führenden Bassstimme in den Takten 18 und 19 mit den jeweils entsprechenden Takten 22/23, 55/56 und 61/62, wird erkennbar, dass keine Version der anderen gleicht. Dadurch, dass sie sich selbst in unterschiedlicher Weise kontrapunktiert, gibt sie sich selbst vier verschiedene "harmonische Gewänder" und dadurch unterschiedliche Ausdruckswerte, und das ohne sich dabei als Stimme an sich grundlegend zu verändern.

Die chromatische Linie wird durch die Oberstimme im Dezimkanon kontrapunktiert (T. 16 - 18):

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Die Oberstimme imitiert die chromatische Linie als Dezimkanon (T. 20 - 22):

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Die chromatische Linie wird durch die Oberstimme im Oktavkanon kontrapunktiert (T. 55 - 57):

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Die Oberstimme imitiert die chromatische Linie als Oktavkanon (T. 59 - 61):

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Bach hat nicht nur die Kanonstimme alleine notiert, sondern auch die imitierende Stimme. Das liegt erstens an den Übergängen, die ja nicht zum eigentlichen Kanon gehören und zweitens daran, dass die imitierende Stimme manchmal nicht real, sondern tonal kanoniert.

(Hier kann diese Analyse als PDF heruntergeladen werden.)